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Vor Lady Sovereign

Über Musik schreiben ist wie zu Architektur tanzen. Manchmal gibt es dennoch "Movements" über die zu schreiben es sich lohnt. Grime zum Beispiel. Was das ist, wo das herkommt und warum das irgendjemanden interessiert erzählt Karsten Schuldt

Grime ist schon wieder tot. Zumindest wenn man einigen Diskussionen im Movement folgt.

Grime, dass ist eine Musik, die um 2000 in London, vorrangig in den sozialen und geographischen Randgebieten, entstand und spätestens 2003 auch in Berlin ankam. Das Movement ist die Szene um diese Musik.

Stilistisch hängt das mit Dubstep zusammen, einer Form elektronischer Tanzmusik mit starker Betonung des melodisch eingesetzten und gleichzeitig zerstückelten Basses. Ganz offensichtlich hat Grime zudem die Nachfolge von Jungle angetreten, bei dem Anfang der Neunziger überdrehter Dancehall mit schnellem Rap verbunden wurde.

Heute klingt Grime nach zerstückeltem Drum'n'Bass, mit westcoaststyligem Rap und einer punkigen, leicht ironischen Ich-ich-ich-Attitüde. Das ganze basiert musikalisch auf einem bemerkenswert hohen Popmusik-Geschichtsbewusstsein, welches sich vor allem dadurch manifestiert, dass sehr gezielt Songs benutzt und variiert werden, die inhaltlich und musikalisch bedeutsam waren und nicht einfach nur gut klingen. Kennzeichen von Grime ist zudem eine konsequente Sampletechnik, die an den frühen Hiphop erinnert. Man hört einfach wieder, wo die Samples einsetzen und aufhören. Der Rap selber überschlägt sich oft, er ist treibend und schnell.

Inhaltlich geht es vor allem um die Musikmachenden, um ihr Leben und ihren Willen, sich durchzusetzen. Dennoch ist ein erstaunlich großer Anteil der Musik politisch, vornehmlich antirassistisch oder diffus gegen das System. Liebeslieder zumindest funktionieren gar nicht.

In London scheint Grime auch ein Kind der Verliehrergeneration von New Labours Politik zu sein. So ist der Anteil von Menschen mit migrantischem Hintergrund hier überdurchschnittlich hoch.

Mit Grimetime existiert eine Gruppe, welche in Berlin stetig Partys organisiert und auf ihrer Weblog das Movement motiviert. Die Zeitschrift De:Bug hob Grime 2006 auf ihren Titel. Im Sommer lief beim Projekt Radio Einszueins mit Grimetime-Radio die erste Sendung in Deutschland explizit zu dieser Musik. In Großbritannien läuft eine wöchentlich auf BBC1xtra.

Und jetzt ist Grime tot. Wieso? Wegen des Erfolges. Vor zwei Jahren schaffte es MIA – nicht mit der kindischen deutschen Popgruppe zu verwechseln – kurz in die MTV-Rotation. Letztes Jahr signte Jay-Z einige Leute aus dem Movement. Davon hat Lady Sovereign mit einer popigen Version von Grime bedeutenden Erfolg. Das war für viele der Grund, dass Ende des Movements – der Bewegung mit Musik, Lebensstil und eigenen künstlerischen Ausdrucksmitteln weg vom Mainstream – auszurufen. Andere taten das für Berlin, als im Sommer 2006 eine große Grimetime-Party von Puma gesponsert wurde.

Dann begann Jay-Z selber auf einem Konzert zu grimen, für vielleicht drei Minuten. Die Musik wurde einfach elektronischer, noch etwas härter und er rappte noch schneller und gebrochener, als sonst. Das Video von diesem Auftritt wurde im Movement besprochen. Jay-Z, mit seiner oft poetisch durchdachten Hau-Drauf-Attitüde und Brachial-Ironie passt zu Grime besser, als jeder andere Rapstar. Dennoch beginnt jetzt der große Ausverkauf. Wie schon im Punk mit den Sex Pistols, im Jungle mit General Levy und so weiter. Andere dagegen sehen es als Chance, dass Grime in den USA ankommt.

So scheint Grime den Weg jeder größeren Jugendsubkultur zu nehmen: wachsen und dann, wenn die „normalen Kids“ auch zuhören, sich spalten in die, die auf die Eigenständigkeit des Movement pochen und jene, welche mehr oder weniger Geld damit machen. Manchmal, wie beim Hiphop, etabliert sich das. Manchmal, wie beim Jungle, nicht. Grime steht gerade am Scheideweg. Man sollte zumindest einmal reinhören, es ist einer der Sounds zur flexibilisierten Gesellschaft. Laut, hart, schnell, geschichtsbewusst und irgendwie, zwischendurch, auch mal nachdenklich politisch.

Mehr: „The Offical War Report“ von Logan Sama im Netz suchen, downloaden, anhören. Der Podcast von grimetime.de bietet ebenfalls großartige Beispiele aktuellen Grimes.

Quelle: HUch - Zeitung der studentischen Selbstverwaltung der Humboldt-Universität zu Berlin, Nr. 50, Januar 2007