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Hier Studierende, da Gewerkschaft

Mieser Job während des Studiums, unsichere Arbeit danach: Studierende sind von der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes betroffen - und lassen sich fast alles gefallen. Von gewerkschaftlicher Organisation keine Spur. Warum? fragt Karsten Schuldt

Der Normalarbeitstag, dieser gerne als nine-to-five-Job bezeichnete Zustand von Arbeitsverhältnissen mit bezahltem Urlaub, geregelter Arbeitszeit, klaren Rechten und Pflichten für Arbeitende und die Menschen in den Chefetagen, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Elternzeit und Kündigungsschutz, ist kein Allgemeingut mehr. Allerdings basierte auf diesem Konzept jahrzehntelang die bundesdeutsche Wirtschafts-, aber auch Gewerkschaftspolitik. Normalarbeitstag bedeutete: von neun bis fünf kann gearbeitet werden - inklusive vorgeschriebener Pausen -, alles andere kostet Zuschläge. Dass Institutionen wie Museen, Bibliotheken oder Ämter, genauso wie Kindertagesstätten und Schulen nur zu bestimmten Zeiten geöffnet haben, hing und hängt auch heute noch mit diesen genormten Zeitrahmen zusammen. Das bot Vorteile für die Arbeitenden, auch wenn es immer berechtigte Kritik an dieser einengenden Arbeitsform gab. Die Firmen profitierten von einer relativ hohen Zufriedenheit der Belegschaft und von wenig Arbeitskämpfen in Form von Streiks und Ausständen.

Doch heute existieren Normalarbeitstag und Normalarbeitsverhältnis in weiten Bereichen nicht mehr. In diesem Zusammenhang fallen oft die Schlagworte Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse. Beide meinen praktisch dasselbe, nur dass der erste Begriff diese Veränderungen positiv, der zweite negativ beschreibt. Prekäre Arbeitsverhältnisse haben sich nach und nach auf alle möglichen Zeiten ausgedehnt. Gearbeitet wird abends, nachts, sonntags, an Feiertagen. Das gab es früher auch schon, allerdings als entlohnte Ausnahme (beziehungsweise nur in bestimmten Arbeitsbereichen), während es heute teilweise als normal gilt und deshalb mit dem Normaltarif ohne Zuschläge bezahlt wird. Zudem sind diese Arbeitsplätze entweder gänzlich unsicher oder nur im begrenzten Rahmen kurzfristiger Arbeitsprojekte fest. Einige begrüßen diese Form der Arbeit als spontan und abwechslungsreich, was sie unter bestimmten Umständen gewiss auch sein kann. Sie verzichten damit auf geregelten Urlaub, auf Lohnfortzahlungen und andere festgeschriebene Leistungen, die vielleicht nach LBS-Eigenheimzulage klingen, aber das Leben auch planbarer, ruhiger und vor allem abgesicherter machen. Und das nicht nur für Menschen, die sich für Kinder entscheiden. Es sind besonders Frauen, darunter vor allem Alleinerziehende, die sich zu prekären Arbeiten gezwungen sehen.

Fakt ist, dass für flexible beziehungsweise prekäre Beschäftigung die gewerkschaftliche Absicherung nicht greift, die - wie immer sie sonst bewertet wird - in der alten Bundesrepublik einen relativ hohen Rechtsschutz begründet hatte, vor den härtesten Zumutungen schützen konnte und auch dafür sorgte, dass Beruf und Alltag relativ getrennt voneinander blieben. Wie gesagt: eine Anzahl von Menschen kommt mit dieser Form zu arbeiten gut zu Recht. Aber ob eine relativ kleine Gruppe von Selbstständigen im kulturellen und wissenschaftlichen Bereich sich ständig selbst verkaufen und motivieren, ohne zu wissen, ob sie in der nächsten Zeit einen Job bekommen oder aber ob tausende von Call Center Agents dies tun müssen, ist ein relevanter Unterschied. Dabei trifft die Flexibilisierung bestimmte Bereiche bevorzugt, während andere kaum betroffen sind. Während Managementetagen, akademische und ungelernte Berufe davon fast vollständig betroffen sind, lassen sich in den traditionellen Industriejobs sogar Tendenzen beobachten, die Normalarbeitstage wieder strenger zu handhaben.

Gerade in den flexibilisierten Jobs allerdings, welche von Studierenden entweder während ihres Studiums oder danach übernommen werden, sind die Arbeitenden so gut wie gar nicht gewerkschaftlich organisiert. Das hat mehrere Gründe. Dazu gehören zum einen Fehler der Gewerkschaften. Diese haben keine Konzepte, um auf die neuen Anforderungen zu antworten. Ende des letzten Jahres berichtete zum Beispiel ein Gewerkschafter auf einer ver.di-Veranstaltung über die Verhältnisse in deutschen Call Centers, welche als Prototyp prekärer Arbeitsverhältnisse angesehen werden. Er referiert über die ständige Überwachung der Angestellten, die Abwälzung des ökonomischen Risikos auf die Arbeitenden (die einfach entlassen werden, wenn Aufträge nicht übernommen werden können), sowie über die fehlenden Sozialleistungen. Auf die Frage nach praktikablen Strategien fiel ihm dann nur ein, dass die in Call Centern Arbeitenden der Gewerkschaft beitreten und Betriebsräte gründen sollten. Diese Vorschläge erscheinen nicht besonders zeitgemäß. Dass viele Angestellte vielleicht gar nicht lange in einer Firma arbeiten wollen, dass sie auch Vorteile darin sehen, relativ flexibel ihre Arbeitszeit einteilen zu können oder Aufgrund ihres Studiums darauf angewiesen sind und sie dennoch eine arbeitsrechtliche und politische Unterstützung benötigen, ist bei den Gewerkschaften bisher bestenfalls als Problem wahrgenommen worden.

Andererseits sind es auch Studierende selbst, die sich weder über ihre Rechte informieren noch daran interessiert zeigen, ihre oftmals miserable Situation zu verbessern. Teilweise scheint es so, als sei ihnen der symbolische Gewinn, für 5,50 Euro die Stunde Samstag und Sonntag früh in einer Szenekneipe zu arbeiten, wichtiger als die eigene soziale und vor allem langfristige Absicherung. Das Problem dabei ist: Dadurch, dass sie sich vieles gefallen lassen, tragen sie mit dazu bei, dass ihnen immer mehr zugemutet wird. Und wenn nicht in diesem Job, dann im nächsten, den sie annehmen müssen, weil sie das Geld brauchen.

Ein heraus stechendes Beispiel für diese Situation sind die zahllosen von Studierenden, Absolventen und Absolventinnen besetzten Praktikumsplätze. Eigentlich als eine Art Zusatzausbildung gedacht, bei der die jungen Menschen den jeweiligen Betrieb und dessen Anforderungen kennen lernen können sollen, und die Betriebe die jungen Menschen, die sie einstellen wollen, sind heute Praktikantinnen und Praktikanten zu fast oder vollständig kostenlos Arbeitenden geworden, welche faktisch normale Arbeitsplätze ersetzen. Nicht bei jedem Praktikum ist das so, aber doch bei einer erheblichen Zahl. So gibt es Firmen in denen mehr Personen ein Praktikum machen, als dort fest angestellt arbeiten. Heute existiert eine Generation von gut Ausgebildeten, welche zahllose Praktika machen, sich irgendwie anders finanzieren und erst signifikant später als ihre Eltern einen richtigen Job bekommen. Bis dahin hängen sie praktisch in der Luft und verhindern letztlich durch ihre Bereitschafts ständig in dieser Weise für ein Zeugnis und ein Taschengeld zu arbeiten, dass solche Praktikumsstellen in richtige Jobs umgewandelt werden müssen. Gleichzeitig tun sie dies in der paradoxen Hoffnung, sich für spätere Jobs, die möglichst nicht geschaffen werden, gut zu qualifizieren. Als am 1. April, ausgehend von der französischen Gruppe Génération Précaire, in einem europaweiten Aktionstag gegen diese Form der Ausbeutung protestiert werden sollte, kamen in Berlin vielleicht 50 Menschen zusammen. Was war passiert? Die DGB-Jugend und ein gewerkschaftsnaher Verein hatten mobilisiert, als ginge es um eine MetallarbeiterInnenversammlung. Gewerkschaftsintern wurden einige Mails verschickt und - fast zu spät - Presseerklärungen herausgegeben. Zudem es gab ein paar kopierte Plakate im A4-Format, einzeln an ausgewählten Orten in Berlin aufgehängt. Das mag in gut organisierten Branchen ausreichen. Aber die Praktikanten und Praktikantinnen wurden so nicht erreicht, egal wie richtig die Argumente der organisierenden Gruppen waren.

Das ist symptomatisch. Studierende und Gewerkschaften leben zurzeit aneinander vorbei, obwohl gerade für erste eine Interessenvertretung im Arbeitsalltag notwendig wäre. Und sei es nur, um die individuelle Lage in und zwischen den prekären Jobs als eine Massenerscheinung zu erkennen. Es bleibt zu klären, ob die etablierten Gewerkschaften überhaupt das Fundament für Kämpfe in der flexibilisierten Arbeitswelt sein können.

www.generation-p.org, www.fairwork-verein.de, www.students-at-work.de

Quelle: HUch - Zeitung der studentischen Selbstverwaltung der Humboldt-Universität zu Berlin, Nr. 48, Juni 2006